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Stadtteilserie im Weser-Kurier - Folge 7 vom 02.10.2010

Seehausen - Nachbarschaft am Deich

Von Michael Brandt

Bremen-Seehausen. Hier ragt das platte Land in die Stadt. Alte Bauernhöfe stehen an der Straße, Restaurants am Weserufer laden zu einer Pause ein, und hinter den Häusern fällt der Blick über die weiten Wiesen der Marsch. Seehausen ist einer der wenigen Bremer Stadtteile, die noch dörflich geprägt sind - ein ideales Ausflugsziel am Wochenende und gleichzeitig Wohnort für rund 1100 Bremer. Eine Idylle, wenn auch mit großen Sorgen.

Wenn man sich mit Ortsamtsleiterin Eva Thiemann im kleinen roten Ortsamt verabredet, dann hat sie eine Thermoskanne Kaffee für den Gast dabei. Seehausen, das ist Dorfgemeinschaft. Gute Nachbarschaft am Deich. Hier geht das noch, weil sich die Bewohner des Stadtteils untereinander kennen. "Es existiert eine Gemeinschaft", beschreibt es die Ortsamtsleiterin, die selbst aus der östlichen Vorstadt kommt, inzwischen aber seit 41 Jahren in Seehausen lebt. Gerade für Familien mit Kindern, ist Eva Thiemann überzeugt, ist Seehausen die richtige Adresse. "Hier können die Kinder noch Freiheit erleben. Es ist einfach schön hier."

"Die Mentalität ist anders", ist auch der Tierarzt Hilmer Hagens überzeugt, der gleichzeitig Vorsitzender der örtlichen Interessengemeinschaft ist. "In Seehausen passt man noch aufeinander auf." Mit der Großstadt Bremen, wie sie die meisten kennen, hat Seehausen kaum etwas zu tun. Bis zum Roland sind es rund 14 Kilometer - eine andere Welt. Hagens zum Beispiel nimmt bei den Seehausern eine "positive Sturheit" wahr. Über Kindergarten und Schule funktioniert seiner Ansicht nach auch die Einbindung derjenigen, die Mitte der 1990er Jahre ins Neubaugebiet gezogen sind. Als die Bauflächen ausgewiesen worden sind, ist die Einwohnerzahl des kleinen Stadtteils noch einmal sprunghaft angestiegen.

Rückläufige Landwirtschaft. Seehausen und Hasenbüren haben keinen eigentlichen Ortskern. Schule, Sportplatz und Kirche markieren die gefühlte Mitte. Die Wohnhäuser ziehen sich entlang der Hauptstraße, die mit ihren alten Bäumen in einigen Abschnitten Allee-Charakter hat. Vom Deich auf der einen Seite geht es vorbei an der Kläranlage bis hin zum Yachthafen, wo mehrere hundert Schiffe sanft in der Dünung schaukeln. Die großen alten Bauernhöfe links und rechts bestimmen das beschauliche Bild. Allerdings werden sie heute - anders als vor 20 Jahren - fast ausschließlich als Wohnhäuser genutzt. Laut Eva Thiemann ist nur noch ein Vollerwerbslandwirt aktiv. Ein Zeichen des Wandels.

Und auch das: Der letzte Tante-Emma-Laden, in dem die Seehauser noch schnell die fehlenden Lebensmittel kaufen konnten, hat vor Jahren geschlossen. Es ging nicht mehr. Das graue Gebäude an der Straße macht inzwischen einen heruntergekommenen Eindruck. Die Seehauser sind nach Ansicht der Ortsamtsleiterin aber zumindest zu einem Teil mit schuld, dass es im Ort keine Lebensmittel mehr zu kaufen gibt. Sie seien mit dem Auto lieber nach Woltmershausen oder nach Delmenhorst gefahren, um den Wocheneinkauf zu erledigen. Es hat immer wieder Versuche der Ortspolitik gegeben, die Versorgungslücke im idyllischen Flecken zu schließen. Bisher jedoch vergeblich.

Eigentlich sollte es diesen Stadtteil gar nicht mehr geben. Bremen wollte Seehausen, Hasenbüren und das Dorf Lankenau für ein großflächiges Gewerbegebiet im Zuge des Hafenausbaus opfern. Tatsächlich verschwand Lankenau Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der Neustädter Hafen gebaut wurde. Es hat seitdem einen Ruf als "das verschwundene Dorf". Die Bewohner des Ortes verloren ihre Heimat. Und die Bremer ein Wochenend-Ausflugsziel mit Strand und Badeanstalt, das damals sehr beliebt war. Auch Seehausen verlor damals Fläche und Häuser. Lange Jahre kämpften die Bürger für den Erhalt von Seehausen und Hasenbüren, bis die Flächennutzungspläne schließlich geändert wurden. Durch die Erweiterung des Neustädter Hafens ist auch die heutige triste Anbindung über die Senator-Apelt-Straße entstanden. Mit ein Grund dafür, dass Seehausen-Hasenbüren als abgeschieden wahrgenommen wird. Ein Vorteil und Nachteil zugleich. Wenn Eva Thiemann "ihren Stadtteil" vorstellt, beginnt sie damit am sogenannten Glockenstein, jener runden Weser-Markierung, die älter ist als der Roland. Radfahrer und Skater machen hier am Rastplatz Station. "Was meinen Sie, was hier am Wochenende los ist", freut sich die Ortsamtsleiterin. Die Landschaft, Radstrecken und Skater-Rundkurse locken Ausflügler an. Deshalb sieht Eva Thiemann auch die Zukunft des Stadtteils vor allem darin, weitere Freizeitangebote in der Natur für die Stadtbremer zu machen. So könnte zum Beispiel im Waldgebiet "Groden" ein Wander-Irrgarten entstehen.
Nicht nur vom Rastplatz am Glockenstein fällt der Blick aber auf die Stahlwerke am gegenüberliegenden Flussufer. Der rostrote Hochofen überragt das Dorf. Seehausen - das ist eben nicht nur die ländliche Idylle. Wer Seehausen heute und in den vergangenen 20 Jahren betrachtet, der kommt um die fortwährenden Konflikte mit der Industrie, mit Verkehrsplanungen und um die Belastungen durch Deponie und Kläranlage nicht herum. Schon am Ortseingang begrüßen Protest-Plakate gegen den geplanten Autobahn-Wesertunnel die Besucher. An dieser Stelle kommt auch Hilmer Hagens ins Spiel.

Beim Spaziergang am Deich erinnert er an die Geschichte des Ortes, an die Verlagerung der Weser und die alten Siedlungsstrukturen. Doch schon nach wenigen Schritten kommt der Tierarzt, der immer wieder Spaziergänger und Autofahrer grüßt, auf die Konflikte zu sprechen. "Die Seehauser hatten sich mit den Stahlwerken und der Kläranlage arrangiert", schildert der Vorsitzende der Interessengemeinschaft die Lage, als ihnen die Autobahnpläne zusätzlich präsentiert worden seien. Praktisch seit Anfang der 90er Jahre währt jetzt die Diskussion über die
A 281, die hier die Weser queren soll.

Erst sollte eine gigantische Brücke über den Fluss gespannt werden, später entschied sich der Senat für einen Tunnel. 1993 wurde den Anwohnern eine Tunnelvariante versprochen, die weit ins Land hineingeführt hätte, bis zur Baggergut-Deponie. Doch dann kamen veränderte Pläne auf den Tisch, die den Tunneleingang in die direkte Nachbarschaft der Wohnhäuser verlegten. "Das Maß ist voll", lautet Hagens knappe Beschreibung der jetzigen Situation. Die Kompromissbereitschaft, die die Seehauser in der Vergangenheit noch ausgezeichnet habe, sei inzwischen nicht mehr vorhanden. Seehausen - das ist auch eine streitbare Bürger-Gemeinschaft. Die Bürger fürchten, dass das Dorf durch die Autobahn zerschnitten wird.

Mehr als Sport. Die Auswahl an Freizeitaktivitäten ist in Seehausen für Jugendliche nicht sehr groß. Die Kirche macht Angebote, ebenso Feuerwehr und natürlich der Sportverein. Der TSV Hasenbüren hat wegen der Lage des Stadtteils eine umfassendere Funktion, als nur Trainingszeiten und Punktspiele anzubieten, sagt der Vorsitzende Hans-Jürgen Dreeke. Er hat gerade Fußballfelder und Bolzplatz inspiziert, die etwas unterhalb der Landstraße liegen, hinter der Turnhalle. "Hier spielt sich", sagt er über den Sportverein, "das gesellschaftliche Leben ab." Zumindest in Teilen. Die Bedeutung des Vereinslebens im Dorf Seehausen spiegelt sich auch an den Mitgliederzahlen. 350 Mitglieder hat der TSV, fast jedes Seehauser Kind gehört dazu. Nachwuchssorgen gibt es nicht.

"Es ist alles ein bisschen ruhiger und ein bisschen persönlicher." Das bezieht Dreeke auf das Vereinsleben ebenso wie das Leben allgemein im Stadtteil. Für den Verein bedeutet dies, dass auch die Eltern aus umliegenden Stadtteilen ihre Kinder gerne nach Seehausen zum Sport anmelden. Denn: "Es ist nicht so anonym." So werden die Sportanlagen auch immer wieder zum Nachmittags-Treffpunkt für die Jugendlichen.

Zurück zu Eva Thiemann, die mit ihrem Besuch an der Kirche ankommt, deren Geschichte bis weit ins Mittelalter zurückreicht. Auf dem Pflasterweg hin zum weißen Kirchengebäude bleibt die Ortsamtsleiterin kurz stehen, schaut und stellt dann ganz umfassend fest: "Es ist einfach schön hier."